Nachfolgend ein Beitrag vom 5.7.2016 von Adamus, jurisPR-FamR 14/2016 Anm. 7

Orientierungssätze

1. Die ärztliche Schweigepflicht reicht über den Tod eines Patienten hinaus. Bestehen keine Anhaltspunkte für die Äußerung eines Patienten zu Lebzeiten, dass der Arzt nach seinem Tod schweigen solle bzw. dass er Angaben machen dürfe, kommt es auf den mutmaßlichen Willen des Patienten an (vgl. BGH, Beschl. v. 04.07.1984 – IVa ZB 18/83 – NJW 1984, 2893).
2. Hat der Arzt sich mangels näherer Kenntnisse der Verhältnisse nicht in der Lage gesehen, eine Entscheidung betreffend den mutmaßlichen Willen zu treffen, ist das Gericht nicht gehindert, die Entscheidung des Arztes, die Aussage zu verweigern, zu korrigieren.
3. Macht der Sohn des verstorbenen Patienten einen Pflichtteilsanspruch geltend, verlangt die Tochter einen finanziellen Ausgleich für die Pflege des Patienten und hält das Gericht die Klärung der Pflegebedürftigkeit für geboten, hätte sich der Patient mutmaßlich dieser Klärung nicht widersetzt, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er wegen eines gestörten Verhältnisses zu seinen Kindern vorgezogen hätte, dass der Arzt keine Angaben macht oder dass es ihm peinlich gewesen wäre, wenn Einzelheiten seines Zustandes öffentlich würden.

A. Problemstellung

Kann ein Arzt nach dem Tod seines Patienten von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden werden?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Landgericht hatte mit Zwischenurteil die Zeugnisverweigerung des Arztes für rechtmäßig erklärt. Die Beschwerde nach § 387 Abs. 3 ZPO hat Erfolg. Dem Arzt stehe ein Recht zur Verweigerung der Aussage nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nicht zu, so das OLG Koblenz. Zu Lebzeiten des Patienten habe der Arzt die ärztliche Schweigepflicht zu beachten, solange er von seinem Patienten nicht hiervon entbunden sei. Die ärztliche Schweigepflicht reiche über den Tod der Patienten hinaus. Nach dem Tod der Patientin sei zu prüfen, ob sich diese zu Lebzeiten dahin geäußert habe, dass der Arzt nach ihrem Tod schweigen soll bzw. dass er Angaben machen darf. Gebe es eine solche Äußerung wie vorliegend nicht, sei der mutmaßliche Wille der Verstorbenen zu erforschen.
Der Kläger mache in dem Rechtsstreit einen Pflichtteilsanspruch geltend. Die Beklagte verlange einen finanziellen Ausgleich dafür, dass sie die Erblasserin gepflegt habe. Das Landgericht habe die Frage der Pflegebedürftigkeit für beweiserheblich angesehen.
Es könne angenommen werden, dass die Erblasserin daran interessiert gewesen wäre, dass es nach ihrem Tod zu einer gerechten Regelung betreffend ihren Nachlass komme. Dazu gehöre auch, dass die Tatsachen offengelegt werden, die zur Ermittlung einer gerechten Regelung benötigt würden. Mutmaßlich hätte die Erblasserin sich dieser Klärung nicht widersetzt, sondern im Gegenteil das Erforderliche getan, um eine Klärung zu ermöglichen. Das bedeute, dass sie den Arzt von seiner Schweigepflicht entbunden hätte.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung des OLG Koblenz setzt die Rechtsprechung des BGH (BGH, Beschl. v. 04.07.1984 – IVa ZB 18/83 – BGHZ 91, 392 = FamRZ 1984, 994) fort. Die ärztliche Schweigepflicht reicht über den Tod des Patienten hinaus (§ 203 Abs. 4 StGB). Die Schweigepflicht gewährleistet, dass geheimhaltungsbedürftige Tatsachen aus dem Lebensbereich des Patienten auch nach seinem Ableben nicht oder jedenfalls nicht weiter als nötig aufgedeckt werden. Frühere Geheimhaltungswünsche können aber infolge des Ablebens inzwischen überholt sein. So mag ein Patient ein berechtigtes Interesse daran haben, dass die ungünstige Prognose seiner Krankheit und damit seine geringe Lebenserwartung vor seinem Tode nicht bekannt wird (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.12.2015 – 12 U 57/15 Vorerkrankungen bei einer Lebensversicherung). In der Regel erledigt oder vermindert sich jedoch ein derartiges Geheimhaltungsinteresse mit dem Ableben. Maßgebend ist der (selten ausdrücklich) erklärte oder der mutmaßliche Wille des Patienten, weil das Befreiungsrecht des Patienten als höchstpersönlich und unvererblich anzusehen ist (RG, Urt. v. 17.11.1936 – 1 D 793/36 – RGSt 71, 21) und daher nicht von den Erben ausgeübt werden kann. Dagegen erhalten Erben seit der Einführung des PatientenRG vom 20.02.2013 nach § 630g Abs. 3 BGB Einsicht in die Patientenakte (vor der gesetzlichen Regelung vgl. BGH, Urt. v. 31.05.1983 – VI ZR 259/81 – NJW 1983, 2627).
Hat sich der Patient zu Lebzeiten geäußert, sei es gegenüber dem Arzt oder gegenüber Dritten, dann ist dieser Wille grundsätzlich maßgebend (§ 385 Abs. 2 ZPO). Lässt sich dagegen eine positive Willensäußerung des Verstorbenen nicht feststellen, dann muss der mutmaßliche Wille des Patienten erforscht, also geprüft werden, ob er die konkrete Offenlegung durch den Arzt mutmaßlich gebilligt oder missbilligt haben würde. Im Rahmen der Erforschung des mutmaßlichen Willens ist dem Arzt eine weitgehende eigene Entscheidungsbefugnis einzuräumen. Er muss allerdings, wenn er sich zu einer Aussageverweigerung entschließt, eine gewissenhafte Prüfung vornehmen und im Einzelnen darlegen, auf welche Belange des Verstorbenen sich seine Weigerung stützt. Von der erkennbar gewordenen oder zu vermutenden Willensrichtung des Patienten nicht gedeckte Verweigerungsgründe sind sachfremd und daher unbeachtlich. Hat er keine nähere Kenntnis der Verhältnisse des Patienten, kann regelmäßig angenommen werden, dass der Patient daran interessiert gewesen wäre, dass es nach dem Tod zu einer gerechten Regelung des Nachlasses kommt. Dazu gehört auch, dass die Tatsachen offengelegt werden, die zur Ermittlung einer gerechten Regelung benötigt werden.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung kann im Falle des Todes sinngemäß auf die anderen aus persönlichen Gründen zum Schweigen verpflichteten Personen i.S.d. § 383 Abs. 1 ZPO übertragen werden, soweit der Verstorbene von der Schweigepflicht entbinden konnte. Der Zeuge muss seine Verweigerung begründen, damit das Prozessgericht (§ 387 Abs. 1 ZPO) über die Rechtmäßigkeit der Weigerung entscheiden kann.