Nachfolgend ein Beitrag vom 02.08.2016 von Jahreis, jurisPR-FamR 16/2016 Anm. 5

Orientierungssatz

Die Beweislast dafür, dass der Erblasser bei Errichtung des Testaments Geschriebenes nicht zu lesen vermochte (vgl. § 2247 Abs. 4 BGB), liegt – ähnlich wie bei der Berufung auf Testierunfähigkeit – bei demjenigen, der sich auf die Leseunfähigkeit des Erblassers beruft.

A. Problemstellung

Wer trägt die Darlegungs- und Beweislast für eine Testierunfähigkeit aufgrund fehlenden Leseverständnisses?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagten begehrten im Wege einer Widerklage die Feststellung der Alleinerbenstellung ihrer Mutter nach ihrem vorverstorbenen Vater sowie ihrer eigenen Erbenstellung nach ihrer nachverstorbenen Mutter.
Die Erblasser waren die Eltern der Beklagten. Sie errichteten am 20.12.1990 ein gemeinschaftliches notarielles Testament, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben einsetzten. Der Längstlebende sollte vollumfänglich berechtigt sein, über das gesamte Vermögen sowohl unter Lebenden als auch von Todes wegen zu verfügen. Für den Fall, dass der Längstlebende von seinem Recht, erneut zu testieren, keinen Gebrauch machen sollte, sollten die vier gemeinsamen Töchter der Erblasser Schlusserben zu gleichen Teilen werden.
Am 27.11.2001 errichteten die Erblasser ein von der Ehefrau geschriebenes und von beiden Eheleuten unterzeichnetes handschriftliches Testament, in dem unter anderem der Ehemann seine Ehefrau als alleinige Vollerbin einsetzte und den Beklagten sein gesamtes Grundvermögen vermächtnisweise zuwandte. Die Ehefrau setzte die Beklagten als ihre alleinigen Erben ein und wandte dem Erblasser ihren Anteil am Hausrat sowie ihr sonstiges bewegliches Vermögen einschließlich Wertpapiere und Bankguthaben zu.
Nach dem Tod ihres Ehemannes errichtete die Mutter der Beklagten am 27.12.2004 ein notarielles Testament, mit dem sie in Wiederholung ihrer Erbeinsetzung aus dem Testament vom 27.11.2001 die Beklagten zu ihren Erben zu gleichen Teilen einsetzte.
Die Klägerin setzte der Einsetzung der Beklagten als Erben entgegen, ihr Vater sei seit 2001 nicht mehr in der Lage gewesen, Geschriebenes zu lesen und zu verstehen und sei daher bereits am 27.11.2001 testierunfähig gewesen. Weiterhin ist die Klägerin der Auffassung, die Beklagten, die sich auf das Testament vom 27.11.2001 berufen wollen, hätten die die Testierfähigkeit des Vaters begründenden Tatsachen unter Beweis zu stellen.
Die Widerklage der Beklagten war in erster Instanz erfolgreich (LG Hamburg, Urt. v. 07.06.2013 – 328 O 50/07). Hiergegen richtete sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Das OLG Hamburg hat die Berufung zurückgewiesen.
Zunächst äußert das Berufungsgericht Zweifel, ob eine zulässige Berufung überhaupt vorliege. Denn obwohl das Urteil des LG Hamburg feststelle, dass die Erbenstellung der Beklagten nach ihrer Mutter sowohl auf dem gemeinschaftlichen Testament der Eltern der Parteien vom 27.11.2001 sowie auch dem Testament der Mutter vom 27.12.2004 beruhe, habe die Klägerin sich mit ihrer Berufung nicht gegen die Wirksamkeit des Testaments der Mutter der Parteien vom 27.12.2004 gewandt. Allerdings könne die Frage, ob ein zulässiger Berufungsangriff vorliege, offenbleiben, weil die Berufung ohnehin unbegründet sei. Wer Geschriebenes nicht zu lesen vermag, könne gem. § 2247 Abs. 4 BGB kein eigenhändiges Testament errichten. Lesefähigkeit bedeute, dass der Erblasser zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung imstande sein müsse, das Geschriebene zu lesen und den Sinn zu erfassen. Die Beweislast für eine Testierunfähigkeit obliege grundsätzlich demjenigen, der sich auf die mangelnde Testierfähigkeit beruft. Der Umstand, dass ein Testierender Geschriebenes nicht lesen kann, stelle eine Ausnahme von der Regel dar. Wenn die Beweisaufnahme keine Klarheit über gravierende Defizite beim Leseverstehen erbringe, sei weiterhin vom Regelfall auszugehen, nämlich, dass der Testierende lesefähig war.

C. Kontext der Entscheidung

Das OLG Hamburg stützt sein Urteil zwar nicht darauf, dass ein unzulässiger Berufungsangriff vorliege, allerdings entspricht die vom OLG Hamburg vertretene Auffassung der jüngeren Rechtsprechung des BGH (Beschl. v. 04.11.2015 – XII ZB 12/14). Danach erfordert ein zulässiger Berufungsangriff, dass alle Gründe, die das erstinstanzliche Urteil tragen, angegriffen werden.
Das OLG Hamburg konkretisiert den Begriff der Lesefähigkeit in § 2247 Abs. 4 BGB zutreffend dahingehend, dass es nicht allein ausreicht, dass der Erblasser des Schreibens bzw. Lesens mächtig war, sondern auch den Sinn des Geschriebenen erfassen muss. In der Rechtsprechung und Kommentarliteratur wird hierzu schon seit längerer Zeit vertreten, dass der Begriff des Lesens in § 2247 Abs. 4 BGB dahingehend zu verstehen ist, dass er auch das Leseverständnis erfasst (Hagena in: MünchKomm BGB, § 2247 Rn. 51; BayObLG, Beschl. v. 27.06.1997 – 1Z BR 240/96 – ZEV 1997, 339).
Zur Fallgruppe der mangelnden Lesefähigkeit zählen aber nicht nur intellektuelle Störungen beim Leseverständnis, sondern auch solche Fälle, in denen der Erblasser aufgrund einer Sehbehinderung nicht mehr in der Lage war, Geschriebenes optisch wahrzunehmen. Nach der Rechtsprechung des BayObLG ist eine Testierunfähigkeit daher auch dann gegeben, wenn der Erblasser „fast blind“ gewesen ist, als er sein Testament errichtet hat (BayObLG, Beschl. v. 10.01.1997 – 1Z BR 222/96). In diesem Zusammenhang wird auch vertreten, dass die Errichtung eines Testaments in Blindenschrift nicht möglich sei, weil diese keine persönlichen Schriftzüge enthalte (Hagena in: MünchKomm BGB, § 2247 Rn. 51; Weidlich in: Palandt, BGB, § 2247 Rn. 7; LG Hannover, Beschl. v. 28.03.1972 – 10 T 10/72 – NJW 1972, 1204).
Mit seinen Ausführungen zur Beweislast über die Testierunfähigkeit des Erblassers schließt sich das OLG Hamburg einer Reihe weiterer zu dieser Frage ergangener Entscheidungen an. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Partei, die sich auf die Testierunfähigkeit des Erblassers berufen will, die Darlegungs- und Beweislast für diejenigen Tatsachen trägt, die eine Testierunfähigkeit des Erblassers begründen (OLG Jena, Beschl. v. 04.05.2005 – 9 W 612/04; KG Berlin, Beschl. v. 07.09.1999 – 1 W 4291/98; BayObLG, Beschl. v. 24.03.2005 – 1Z BR 107/04). Mit seiner Beweisregel, dass im Regelfall von einem ordnungsgemäßen Leseverständnis des Erblassers auszugehen sei, und eine Störung des Leseverständnisses die Ausnahme sei, bestätigt das OLG Hamburg eine Entscheidung des BayObLG aus dem Jahre 1985 (BayObLG, Beschl. v. 27.03.1985 – BReg 1 Z 6/85) zu einer identischen Thematik.
Litt der Erblasser unter zeitweisen demenzbedingten Wahnvorstellungen und steht fest, dass der Erblasser zu irgendeinem Zeitpunkt, der für die Testamentserrichtung in Betracht kommt, testierunfähig war, so soll nach einem Beschluss des OLG Jena vom 04.05.2005 (9 W 612/04) dagegen derjenige, der Rechte aus dem Testament herleiten will, die Testierfähigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung nachweisen müssen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Der mit einer entsprechenden Problematik (Testierfähigkeit des Testators bei Abfassung des Testaments) befasste Rechtsanwalt muss seine Mandantschaft bei der Beratung auf die entsprechende Beweislastverteilung und die damit verbundenen möglichen Kosten-Prozessrisiken hinweisen. Je nach Vertretungskonstellation kann dies für seine Mandantschaft günstig oder risikobehaftet sein.