Nachfolgend ein Beitrag vom 10.5.2016 von Linnartz, jurisPR-FamR 10/2016 Anm. 8

Orientierungssatz zur Anmerkung

Auch in den seltenen Fällen eines „klaren und eindeutigen“ Wortlautes ist der Auslegung eines Testaments durch den Wortlaut keine Grenze gesetzt.

A. Problemstellung

Die Entscheidung setzt sich mit der Problematik auseinander, inwieweit eine Regelung für den Fall des gemeinsamen oder unmittelbar nacheinander Versterbens darüber hinaus eine Erbeinsetzung beinhaltet.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Im Jahr 2003 schlossen die Eheleute vor einem Berliner Notar einen Erbvertrag. Sie setzten sich gegenseitig zu Alleinerben ein. Dem Cousin des Erblassers Dr. H. wandte der Erblasser ein Vermächtnis an seinen Gesellschaftsanteilen zu. Für den Fall des gemeinsamen oder des Versterbens unmittelbar nacheinander sollte Dr. H. auch Testamentsvollstrecker sein. Die notarielle Urkunde sah für diesen Fall in dem Erbvertrag auf Seite 3 eine Erbenliste mit den Ziffern 1) bis 4) vor. Die Liste war nicht ausgefüllt. Zwischen den Seiten 2 und 3 der notariellen Urkunde befand sich dann aber eine Adressliste mit den Beteiligten zu 1) bis 7), denen handschriftlich ergänzt Erbquoten zugewiesen sind. Danach erhalten die ebenfalls handschriftlich ergänzten Beteiligten zu 1) und 2) je ein Viertel, die Beteiligten zu 3) bis 7) je ein Zehntel des Nachlasses.
Bei den Beteiligten zu 1) bis 7) handelt es sich um Verwandte des Erblassers oder sonst nahestehende Personen. Die Beteiligte zu 1) und 2) sind Töchter einer Cousine des Erblassers väterlicherseits. Der Erblasser war auch der Taufpate der Beteiligten zu 1). Die Ehefrau war Patin des Beteiligten zu 3). Bei den Beteiligten zu 4) handelt es sich um den Sohn einer Freundin der Erblasserin. Die Beteiligten zu 5) und 6) sind Abkömmlinge einer Freundin der Ehefrau, mit der diese seit ihrer Kindheit befreundet war. Der Erblasser hatte einen 1940 geborenen Halbbruder (Beteiligter zu 8). Dessen Eltern, der Vater des Erblassers und dessen erste Ehefrau waren 1966 in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Weitere Geschwister hatte der Erblasser nicht. Die Eltern waren vorverstorben.
Vor diesem Hintergrund beantragten die Beteiligten zu 1), 2), 4) und 5) einen Erbschein. Dieser Antrag wurde zurückgewiesen, weil der Erbvertrag keine Schlusserbeneinsetzung enthalte, sondern lediglich eine Erbeinsetzung für den Fall des gemeinsamen oder unmittelbar nacheinander Versterbens.
Die zulässige Beschwerde gemäß den §§ 58 ff. FamFG hatte Erfolg. Nach Ansicht des KG Berlin waren die beantragten Erbscheine zu erteilen. Nachdem der Beteiligte zu 4) einen gemeinschaftlichen Erbschein für die Beteiligten zu 1) bis 7) beantragt hatte, erübrigte sich auch die Erteilung von beantragten Teilerbscheinen.
Zur Sache stellte das Kammergericht fest, dass bei der Auslegung von im Erbvertrag (§§ 1941, 2274 ff. BGB) enthaltenen Verfügungen von Todes wegen grundsätzlich die Regeln über die Auslegung von Testamenten gelten. Damit sei der erklärte übereinstimmende Wille beider Vertragsparteien im Zeitpunkt der Vertragserrichtung maßgeblich. Entscheidend sei hier, wie die Erblasser den Vertrag und seinen Wortlaut übereinstimmend verstanden haben. Diese Feststellung gehe jeder Interpretation vor. Daher sei bei der Testamentsauslegung auch in den seltenen Fällen „klaren und eindeutigen“ Wortlautes der Auslegung eines Testamentes durch eben diesen Wortlaut keine Grenze gesetzt.

C. Kontext der Entscheidung

Das Nachlassgericht ging davon aus, dass die Vertragspartner ausschließlich für den Fall des gleichzeitigen Versterbens Ersatzerben für den jeweils anderen gleichzeitig verstorbenen und damit weggefallenen Ehegatten nach § 2096 BGB oder des unmittelbar nacheinander Versterbens als Erbe des Letztversterbenden (Schlusserbe gemäß den §§ 2280, 2269 BGB) Erbe werden sollten. Diese Annahme ist jedoch nicht eindeutig. Der insoweit vorgesehene notarielle Entwurf wurde bei der Beurkundung ergänzt und verändert. Es kam zur Einfügung des Blattes mit der Adressliste und handschriftlichen Ergänzung durch den Notar. Die Einfügungen und Streichungen des Notars zeigen, dass ein Versehen bei der Anpassung des Entwurfs an das bei der notariellen Beurkundung Besprochene nicht auszuschließen, sondern sogar naheliegend ist; es liegen widersprüchliche und unvollständige Regelungen vor. Der Wille aller Beteiligten ist daher zu erforschen.
Bei der Auslegung der im Erbvertrag (§§ 1941, 2274 ff. BGB) enthaltenen Verfügung von Todes wegen gelten grundsätzlich die Regeln über die Auslegung von Testamenten. Dabei ist auf den Zeitpunkt der Vertragserrichtung als den maßgeblichen Zeitpunkt abzustellen. Es ist sodann der erklärte Wille unter Berücksichtigung des Vertrages und seines Wortlauts, wie er übereinstimmend verstanden wurde, auszulegen. Schließlich genießt der wirkliche Willen der erklärenden Erblasser Vorrang vor jeder anderen Interpretation, wenn alle Beteiligten die Erklärung in diesem Sinne verstanden haben (BGH, Urt. v. 26.10.1983 – IVa ZR 80/82 – NJW 1984, 721; Weidlich in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 1941 Rn. 8).
Die Entscheidung des KG Berlin weist zu Recht darauf hin, dass bei der Auslegung gemäß den §§ 133, 2084 BGB der wirkliche Wille des Erblassers zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften ist. Daher darf nicht nur der Wortlaut analysiert werden. Vielmehr müssen auch Umstände außerhalb der Urkunde herangezogen werden. Dies bedeutet, dass zur Aufklärung beispielsweise die Notariatsnebenakten – die im vorliegenden Fall unergiebig waren – heranzuziehen sind. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Vernehmung von Zeugen. Im vorliegenden Fall hatten diese widerspruchsfreie Erklärungen zu dem Verständnis des Willens der Erblasser abgegeben. Der gemeinsame Wille kommt in dem Erbvertrag auch hinreichend deutlich zum Ausdruck und entspricht dem notariellen Formerfordernis (§ 2276 Abs. 1 BGB).

D. Auswirkungen für die Praxis

Für die Praxis bedeutet die Entscheidung, dass selbst im Falle eines vermeintlich klaren und eindeutigen Wortlautes der wahre Wille des Erblassers zu hinterfragen ist. Dies gilt insbesondere in Bezug auf von Nichtjuristen verfasste letztwillige Verfügungen, wie der vorliegende Fall allerdings zeigt, auch für notariell errichtete Erbverträge (Testamente). Insbesondere bei der Aufklärung des tatsächlichen Willens ist das Gericht auf alle Mittel zur Aufklärung hinzuweisen. Kommt es im Rahmen der Zeugenvernehmung dann zu widerspruchsfreien Erklärungen, ist dies ein starkes Indiz für den tatsächlichen Willen der Erblasser. Vorsorglich sollte aber auch nicht die Einvernahme des Notars ausgelassen werden.