Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert! Nachfolgend ein Interview mit ZEIT Campus


Im Jurastudium muss man viel auswendig lernen? Blödsinn, sagt Bundesrichter Thomas Fischer. Was an den Unis alles falsch läuft, erklärt er hier.

Interview: Leonie Seifert
29. Oktober 2014, 6:56 Uhr ZEIT Campus Nr. 6/2014, 7. Oktober 2014

ZEIT Campus: Herr Fischer, macht einen das Jurastudium fit für jeden juristischen Beruf?

Thomas Fischer: Nein, natürlich nicht.

ZEIT Campus: Was fehlt den Absolventen?

Fischer: Meistens die Softskills, also die sozialpsychologischen Fähigkeiten. Die werden fast nicht gelehrt: Verhandlungskompetenz erwirbt man im Studium nicht, den meisten mangelt es auch an kommunikativer Sorgfalt.

ZEIT Campus: Warum wäre das wichtig?

Fischer: Jura ist eine Wissenschaft, die sich fast ausschließlich mit Sprache beschäftigt. Sie müssen im Beruf Reden halten, Positionen verteidigen, Konfliktsituationen lösen und vor allem Empathie für fremde Personen haben.

ZEIT Campus: Kann man das an der Uni lernen?

Fischer: Im angloamerikanischen Raum fordern Professoren die Studenten ständig auf, ihre Meinung zu sagen und sich mit Gegenpositionen auseinanderzusetzen. Sie sind von Anfang an in einem System, das sie in die Lage versetzt, juristische Berufe auszuüben.

ZEIT Campus: Und in Deutschland ist das anders?

Fischer: Ja. Hier können sie bis zum zwölften Semester in der hintersten Reihe sitzen und kein Wort sagen. Wer sich schämt, in der Öffentlichkeit zu reden, nicht mit Sprache umgehen kann oder nicht weiß, wie man den Konjunktiv verwendet, für den ist das tragisch. Der kommt aus der Uni, kann Einzelfälle bearbeiten, aber merkt bald, dass er sich als Richter oder Rechtsanwalt vor Menschen fürchtet. So geht es auch manchen Ärzten, die glücklich wären, wenn es nur die Patienten nicht gäbe.

ZEIT Campus: Warum gibt es keine Vorlesungen in Verhandeln oder Diskutieren?

Fischer: Veranstaltungen, die nicht unmittelbar Examenswissen vermitteln, gibt es schon allein deshalb nicht, weil die meisten Studenten nicht darauf reagieren würden. Sie denken, es gelte, die ganze Kraft auf das Auswendiglernen von Prüfungsstoff zu richten, und wollen sich mit nichts anderem mehr beschäftigen.

ZEIT Campus: Wirklich so schlimm?

Fischer: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Studenten sitzen in der Vorlesung Strafrecht* Allgemeiner Teil und möchten ein Schema mitgeteilt bekommen, mit dem man einen einfachen Strafrechtsfall lösen kann. Das Schema schreiben sie auf eine Karteikarte, zusammen mit wichtigen Begriffen und Definitionen. Die Karten versuchen sie später auswendig zu lernen. Das ist grob falsch.

ZEIT Campus: Warum?

Fischer: Wer so lernt, wird nicht sehr schlau. Aber Studenten lassen sich leider durch nichts und niemanden davon abbringen. Obwohl es ihnen nichts nützt: Die Ergebnisse der Examina sind so schlecht wie eh und je. 25 bis 30 Prozent fallen durch. Die Mehrheit der Übrigen kriegt allenfalls mittelmäßige Noten.

ZEIT Campus: Trotzdem bleibt ihnen ja nichts anderes übrig, als viel zu lernen.

Fischer: Das Jurastudium ist nicht wirklich schwierig. Es scheint mir viel leichter zu sein als Physik, Linguistik oder Elektrotechnik. Es bleibt genug Zeit, um zu lesen und sich mit Kommilitonen zum Diskutieren zu treffen.

ZEIT Campus: Die meisten Jurastudenten finden vermutlich nicht, dass sie viel Freizeit haben.

Fischer: Das kann sein. Aber die Aufgabe des Jurastudiums ist nicht, eine unendliche Fülle von Einzelwissen zu vermitteln. „Examensreif“ ist man nicht, wenn man dicke rote Gesetzessammlungen auswendig kennt oder möglichst viele Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oberflächlich repetieren kann. Kein Fall ist wie der andere. Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Medizinstudenten und einem Jurastudenten?

ZEIT Campus: Schießen Sie los!

Fischer: Hält man einem Medizinstudenten ein Telefonbuch hin und sagt: „Lernen Sie das bitte auswendig“, antwortet der Mediziner: „Bis wann?“ Der Jurist antwortet auf die gleiche Aufgabe: „Warum?“

ZEIT Campus: Sehr witzig.

Fischer: Es ist ein juristenfreundlicher Witz. Als Abwechslung zu den zahllosen Witzen, die die Juristen als vernagelte Besserwisser darstellen. Aber es kommt tatsächlich stets darauf an zu fragen: „Warum ist das so? Darf der das? Wer hat das erlaubt?“ Dafür muss man natürlich die Fachsprache und Fachgedanken einüben, darin besteht ein Großteil des Studiums. Aber vor allem muss man sich vom Einzelfall lösen und lernen, sich systematisch normative Regeln zu erschließen, die man bei der Lösung anderer Fälle anwenden kann. Wer das kapiert, hat neben dem Studium viel Zeit.

ZEIT Campus: Wie vielen gelingt das denn?

Fischer: Bei den begabten Studenten klappt das. Aber wir haben im Jurastudium leider eine recht große Zahl von unbegabten Menschen, die schaffen das nicht. Sie lernen und lernen und bringen nichts zustande. Ein Beispiel für sinnlosen Aufwand sind diese elenden Repetitorien, zu denen alle hinlaufen.

ZEIT Campus: Repetitorien sind Quatsch?

Fischer: Ja, da geht es um das Einüben von punktuellem Wissen im Hauruckverfahren. Das ist nur von Erfolg gekrönt, weil die Studenten viel Geld dafür bezahlen und sich deshalb anstrengen. In einer engagierten Arbeitsgruppe mit Kommilitonen würde es mindestens genauso gut klappen. Man muss nicht hundert schlechte Klausuraufgaben zur Übung schreiben, sondern zehn gute, und sie wirklich durchdenken.

ZEIT Campus: Was kann man denn machen, wenn man das zweite Staatsexamen nicht besteht?

Fischer: Es ist natürlich schlimm, erst mit Ende 20 zu erfahren, dass man nie eine Robe anziehen darf. Aber man kann im Verlagswesen arbeiten, im Kunstmanagement, in den Medien, Journalist werden. Es gibt viele Berufsalternativen für Juristen.

ZEIT Campus: Was empfehlen Sie einem Absolventen, der mit vier Punkten abschließt?

Fischer: Mit drei Punkten wäre man durchgefallen und müsste umplanen. Mit vier Punkten braucht man sich nicht als Notar oder bei der Justiz zu bewerben. Aber eine erfolgreiche Rechtsanwältin kann man auch mit vier Punkten werden. Es gibt auch für schwache Kandidaten einen Berufsmarkt.

ZEIT Campus: Welche Kanzlei stellt schon Anwälte mit vier Punkten ein?

Fischer: Vielleicht keine der Großkanzleien in Hamburg oder Frankfurt, aber woanders hat man durchaus eine Chance. Denn wer das Studium schafft, hat einen schönen Erfolg errungen. Er hat das Handwerkszeug erlernt, das es ihm ermöglicht, die Welt zu verstehen und zu gestalten. Ob man dabei erfolgreich wird oder nicht: Das hat wenig mit der Note zu tun. Erst nach dem Examen zeigt sich, ob man für den Beruf geeignet ist.

ZEIT Campus: Das Jurastudium bereitet vor allem auf den Richterberuf vor, richtig?

Fischer: Ja. Die Menschen, die ausbilden, verstehen auch in der Regel gar nichts vom Anwaltsberuf. Vorlesungen und Klausurfälle sind ganz überwiegend darauf ausgelegt, Entscheidungen aus der Sicht eines Gerichts zu treffen: Wie ist die Rechtslage, wer ist schuldig, wer muss bestraft werden? Anwaltswissen wird nicht gelehrt.

ZEIT Campus: Was wäre das, zum Beispiel?

Fischer: Die Fragen: Wie komme ich zu einem tragfähigen Vergleich? Wie kann ich Verträge so formulieren, dass mein Mandant Vorteile hat? Erst recht wird den Studenten nicht beigebracht, wie man mit seinen Mandanten umgeht oder eine Kanzlei organisiert.

ZEIT Campus: Lernt man das denn im Referendariat?

Fischer: Das kann man nicht sagen. Referendare sind meist mit Aufgaben betraut, die wenig mit dem Beruf zu tun haben. Die Betreuer haben oft keine Lust oder Zeit, sich zu kümmern. Der Referendar kommt am Montag, holt sich eine Akte und bringt sie zwei Wochen später mit einem kleinen Gutachten zurück. Dann schreibt ihm der angeblich ausbildende Rechtsanwalt ein nettes Zeugnis. Es ist im Sinne der Referendare, nicht viel Aufwand zu haben, sie wollen weiterhin ihre Repetitorien besuchen und für das zweite Examen lernen.

ZEIT Campus: Wann lernt man, was man im Studium nicht vermittelt bekommen hat?

Fischer: Eine ganz allgemeine Vorbereitung gibt es nicht. Wer schon weiß, was er als Jurist am liebsten machen möchte, kann versuchen, spezielle Erfahrungen zu sammeln: als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl, als Mitarbeiter in einer Kanzlei.

ZEIT Campus: Findet man leicht eine Stelle?

Fischer: Manchmal dauert es ein bisschen, bis man was findet. Meist muss man dann viel arbeiten: vielleicht 15 Stunden am Tag, vielleicht sechs Tage die Woche. Viele Einsteiger wechseln in den ersten Jahren schnell den Arbeitgeber. Es ist kein Traumjob, als Associate für wenig Geld bei ständiger Verfügbarkeit zu arbeiten. Das ist für viele ein Praxisschock.

ZEIT Campus: Aber für die viele Arbeit gibt es bei den großen Kanzleien auch viel Geld, oder?

Fischer: Das ist alles relativ. Die Vorstellung, es sei das Paradies, ein Einstiegsgehalt von 80.000 Euro zu bekommen und mit 30 Jahren schon 140.000 Euro, täuscht gewaltig. Wenn man sich in diesem sozialen Umfeld bewegt, braucht man auch relativ teure Klamotten, einen Porsche-Trolley und einen 5er BMW, eine Wohnung mit entsprechender Ausstattung. Und das ganze Gel, das man sich in die Haare schmieren muss, kostet auch einen Haufen Geld. Dann zahlt man noch Steuern, Altersvorsorge, Krankenversicherung, und schon ist mehr als die Hälfte von dem schönen Großkanzleigeld wieder weg.

ZEIT Campus: Gibt es nur das Richteramt oder die Großkanzlei-Anwälte?

Fischer: Nein. Eine ganz entscheidende Weiche, die man recht früh stellen muss, ist, ob man als freiberuflicher oder angestellter Anwalt, als Jurist in einer Firma, in einem Verband oder im öffentlichen Dienst arbeiten will. Zu sagen, Jura ist, wenn ich Konzernfusionen manage und Bernie Ecclestone verteidige – das ist dummes Zeug, dafür sollte man nicht Jura studieren.

ZEIT Campus: Können Sie Ihren Job als Richter am Bundesgerichtshof empfehlen?

Fischer: Die Position unterscheidet sich in fast allem von Bildern, die viele aus Filmen und Krimis haben. Bundesrichter dinieren nicht täglich mit bedeutenden Ministern, sie sind keine Alleswisser, sie haben nur beschränkte Macht. Sie entscheiden über Revisionen gegen die Urteile von Land- und Oberlandesgerichten. Sie hören keine Zeugen, erheben keine Gutachten, würdigen nicht selbst die Beweise. Sie prüfen, ob die bisherigen Instanzen Fehler gemacht haben. Das kann langweilig sein, aber auch sehr spannend. Bundesrichter zu werden ist kein sinnvolles Ziel, es steht allenfalls ganz am Ende einer langen Karriere.